Marina Geitz
Spurensuche auf der Oberfläche
Text aus: Haut. Mythos und Medium, Kunsthaus Hamburg, 2011, Revolver-Verlag
Alles begann mit einem Knall. Mit dem abrupten Verlust der sicheren, runden Form. Mit dem Schock und der Angst, aus der
gleichmäßigen Spur zu geraten, der Hoffnung, mit mäandrierendem Schlingern und Schwanken das einst gleichmäßig
rollende Fahren zum Stillstand zu bringen.
Das Platzen eines Autoreifens ging der Produktion der Objekte von Vera Lossau voraus. Auf Autobahnstandstreifen hat die
Künstlerin für ihre skulpturalen Objekte zerfetzte Reifenteile eingesammelt, die als Relikte von Unfällen zeugen.
Mit dem plötzlichen Zerbersten hat der unter hohem Druck stehende Autoreifen seine gespannte Oberflächenhaut verloren.
Seine ursprünglich runde, funktionale Form wurde unter enormer Energiefreisetzung unbrauchbar gemacht. Doch die
Künstlerin interessieren diese zerstörten Teile. Sie hat die Gummifragmente mit dem Verfahren des Bronzegusses
umgewandelt, bei dem erst aus Silikon eine Negativform von den Relikten abgenommen wird, die anschließend in ein neues
Positiv aus Wachs geformt und dann in Bronze gegossen wird. Die Struktur des Reifenprofils ist ebenmäßig glänzend
aufpoliert, der Untergrund jedoch durch mattierende Patina wieder äschern geschwärzt, so dass den Abguss ein starker
Kontrast von hell und dunkel, glänzend und matt, neu und alt bestimmt. Der Moment nach dem Schock ist förmlich vergoldet,
die Oberfläche, die unbewusst für Sicherheit gesorgt hatte, zu einem mahnend schimmernden Rest erhoben.
Der Abdruck bezieht sich auf etwas Dagewesenes, er verewigt wie ein Denkmal einen eingefrorenen Moment.
Man könnte […] im Abdruck eine für dieses Jahrhundert typische Form der Kritik an der klassischen Repräsentation sehen –
die jedoch einen grundlegend anderen Weg einschlägt als die Abstraktion, denn statt sich radikal vom dargestellten
Gegenstand, vom ‚Realen‘ abzuwenden, wendet der Abdruck sich ihm radikal zu, so radikal, daß er in der Berührung jede
optische ‚angemessene Distanz‘, jede Konvention oder jede Evidenz der Sichtbarkeit, der Erkennbarkeit, der Lesbarkeit
subvertiert.
Georges Didi-Huberman, Kunsthistoriker der Gegenwart, schreibt hier vom Berühren, das dem Abdruck vorangegangen ist.
Ein Berühren, das wiederum auch die Reifen auf ihrem Weg eingeschrieben haben. Auch sie haben Spuren und Abdrücke in
der Wirklichkeit hinterlassen, wie rollende Stempel den Straßen ihr Profil aufgedruckt.
Es verweist damit auch auf die sinnlich-taktile Wahrnehmung der Haut, die ihre Umwelt unmittelbar abtastet, und so einen
wahrnehmenden Abdruck erzeugt.
Die Betonung der glatten Oberfläche des Reifenabdrucks lässt deutlich ein ornamentales Muster hervortreten, das seine sonst
unbeachtete Hülle glänzend beleuchtet – als eine akzentuierte Haut. Wie durch einen dezenten Spot scheint die Haut des
Objektes angestrahlt, die Struktur ihrer ornamentalen Oberfläche entblößt. In der Analogie zur Haut wird das hervorgehobene
Profil plötzlich wie zum bezeugenden Fingerabdruck, der die nackte Identität aufdeckt und das Intimste enthüllt. So gesehen
erzählt jeder Reifenabguss seine persönliche, schicksalhafte Geschichte, indem er Zeugnis vom Hergang des zerstörerischen
Ereignisses gibt.
In der kriminalistischen Spurensicherung sind Reifen- und Fingerabdrücke für die Aufklärung ungelöster Straftaten die
elementarsten Verfahren, um den Tathergang zu rekonstruieren. Wie in Lossaus Objekten wird der am Tatort aufgespürte
Reifenabdruck mit Gips ausgefüllt, dann zu einem Positiv umgewandelt und als formidentisches Simulacrum des Originals der
Spurensicherung zur Fahndung übergeben. Als indexikalisches Zeichen verrät das Reifenprofil per se etwas über seine
bestimmte Geschichte. Der Fingerabdruck hingegen ist ein absolutes Unikat. Er bezeugt die Einzigartigkeit eines jeden
Menschen. Wenn man in mikroskopischer Nahsicht die inneren Fingerspitzen inspiziert, nimmt das Auge eine markante
Zeichnung von Linien und Rillen wahr, die wie ein entlarvendes Stigma in die Finger eingeschrieben sind. Die Oberfläche der
Haut bewahrt an diesem unverwechselbaren Ort das persönliche, zeitlose Profil des Menschen. Minutien – Kleinigkeiten –
werden in der Dermatologie diese die inneren Fingerkuppen umziehenden, parallel gebogenen Hautrillen und Linien genannt,
die das analoge Portrait des Menschen zeichnen. Nach den weissagerischen Theorien des Handlesens verbirgt dieses
charakteristische Bild sogar eine entzifferbare Botschaft, die die Zukunft und das Schicksal einer Person über ihre Haut nach
außen trägt. Die Haut ist Kontaktstelle von innen und außen, und arbeitet als kommunikative Membran. Das flächengrößte
menschliche Organ ist das wichtigste Medium der sinnlichen Wahrnehmung, mit der die Welt im wörtlichen Sinn begriffen wird.
Mit den Flächen, die die Innenseiten von Füßen und Handflächen bedecken, tastet und greift, spürt und fühlt der Mensch.
Auf diese Weise kommuniziert die Haut im ständigen Austausch mit ihrem Umfeld. Mit Millionen von Rezeptoren ist die
Hautoberfläche einerseits extrem sensibel und erfühlt den zartesten Hauch einer Berührung, andererseits kann sie als robuste
Schutzschicht des Körpers enormen Druck und Belastung aushalten.
Wie eine Haut vermitteln auch die Oberflächen der Objekte von Vera Lossau etwas zerbrechlich Nachgiebiges, und zugleich
schützend Geschlossenes. Die Reifenfragmente zeigen verschiedene Oberflächenprofile, die in ihrer Form mit der
menschlichen Haut korrespondieren. Ein Objekt weist eine Oberfläche auf, die jener der Handoberseite ähnelt. Seine Struktur
bildet ein Muster aus mehreren Zickzacklinien, die aus dreieckigen Winkeln zusammensetzt sind und wie Puzzleteile parallel
ineinandergreifen. Analog zu den Hautporen zeugen kleine Vertiefungen auf der Objektoberfläche, die einst Schlitze im
Gummi gewesen sind, von den kommunikativen Fähigkeiten und dem Austausch über die Membran von innen nach außen –
und umgekehrt.
Vera Lossau entgegnet mit ihren Objekten Prozessen des Verschwindens. Schnell gewöhnt sich der wahrnehmende,
menschliche Blick an Formen und Farben von Alltagsobjekten, die als blinde Flecken nicht mehr reflektiert werden. Dieses
unbewusste, und doch gewöhnliche Übergehen bricht die Künstlerin, indem sie mit dem objet trouvé arbeitet und die noch
intakte Haut-Oberfläche der Reifenfragmente zum Thema macht. Die einst homogene, runde, zur rotierenden Bewegung
entworfene Form wird mit dem Aufplatzen des Autoreifens für immer zerstört, um als stillliegendes, reliquienhaftes
Überbleibsel in eine neue, goldene Gestalt transformiert zu werden. Der emotional besetzte Moment der Zerstörung wird von
Vera Lossau in all seiner Flüchtigkeit und Vergänglichkeit mit dem ehernen Material Bronze gezielt eingefroren. Das
traditionelle, historische Medium des Bronzegusses fixiert die Form in einem ewigen, zeitlosen Zustand. Die Künstlerin
verwendet dieses Material bewusst, um mit ‚postironischer‘ Ernsthaftigkeit die sinnlich missachtete Oberfläche des
gewöhnlichen Objekts mitsamt ihrer metaphorischen Bedeutung zu würdigen. Lossau sucht weder, wie die Künstler der
klassischen Moderne, nach neuen alternativen Materialien, noch zitiert sie ironisch und postmodern bewährte Techniken und
klassische Verfahren. In schauerlich-ernsthafter Sentimentalität setzt sich das Reifenstück gleichsam selbst eine
goldschwarze Grabstele, deren Aufschrift die polierten Lettern des sich hellglänzend absetzenden Reifenprofils bilden, die den
Tod der Ganzheit des Objekts, und gleichzeitig das ewige Leben des Ornamentalen verkünden.
Durch Glanz erzeugendes Polieren wird die reliefartige Erhabenheit des Reifenprofils betont, was die geringen Abstände
zwischen den einzelnen Formen erst sichtbar macht und den Charakter des Kunstwerkes als Abdruck verstärkt. Wie eine
Landkarte zeigt das Profil, auf den materiellen Abdruck reduziert, nur noch die oberste Oberfläche. Die zackig zerfetzten
Ränder des mattschwarzen Fragments stehen in bewusstem Form- und Farbkontrast zur nun geschlossen intakten
Schmuckoberfläche und betonen den Status des industriellen Produkts als Relikt. Die reliefartige Struktur der edlen,
goldpolierten Bronze wird in diesem Kontrast beinahe zum ästhetischen Schmuckornament und erinnert an die Glieder einer
Kette. Die Anmutung lässt darüber hinaus durch die geschmeidig gewellte Dynamik des Objekts und die glatten
Hautschuppen einen Schlangenkörper assoziieren und erinnert an die aufgerissene Hauthülle, die Schlangen nach dem
Häuten als verbrauchten Rest, leer und tot, abwerfen. Sich häuten oder aus der Haut schlüpfen kann der Mensch jedoch nur
redensartlich. Ein derartiger körperlicher Neubeginn bleibt ihm verwehrt – das Profil seines Fingerabdrucks bleibt ewig
erhalten.
Auch im Kontext dieser Ausstellung kann der Bezug auf die gehäutete Schlange hergestellt werden und knüpft zum Beispiel
an die Objekte von Akihiro Higushi an. Seine Dinosaurier-Handtaschen erinnern auf den ersten Blick an opulente, fast vulgäre
Luxusobjekte aus echter Schlangenhaut. Die Lederprodukte des artengeschützten Reptils sind einerseits gesellschaftlich
umstritten, ihr Gebrauch verachtet, andererseits ist der Markt unersättlich – die Taschen, Gürtel und Schuhe sind trotz
Einfuhrverboten und Artenschutzgesetzen beliebt. Häufig ersetzen jedoch Imitate aus Plastik die echte Schlangenhaut. Auf
diesen Konflikt beziehen sich Higuchis Handtaschen-Objekte, radikalisieren und ironisieren ihn, denn sie bestehen aus den
Häuten der Tiere, die schon seit Abermillionen Jahren ausgestorben sind. Die Taschen sind vom Künstler aus der Haut der
einzigen noch heute existierenden Dinosaurierart genäht: Aufgeschnittene Gummispielzeugfiguren opfern ihre Körper und
Häute für die edlen Taschen, die mit ihren charakteristischen Punkten und den grün-braunen Farbverläufen das fein
geschuppte Saurierleder exakt nachahmen.
Mit den spezifischen Strukturen und Farben der Objektoberfläche assoziiert der Betrachter – wie auch bei Lossaus Reifen –
eine tierische Haut. Bei beiden Werken wird jedoch mithilfe dieser Konnotation eine kritische Reflexion über die Oberfläche,
ihren Wert und den gesellschaftlichen Kontext angeregt: Die Handtaschen von Akihiro Higuchi sind eine ironisch-spielerische
Substitution, die mit der primären Assoziation, die durch die optischen Strukturen hervorgerufen wird, spielt. Bei Vera Lossau
hingegen ist es das postironisch-ernsthafte Nachdenken, das eine leise Sentimentalität über das alltäglich Unsichtbare und
Unreflektierte erzeugt.
Literaturhinweis:
- Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. München 1999.
- Renate Goldmann: Vera Lossau. The Touch-Art as a Quest of Contact. In: Neues Rheinland. Die postironische Generation,
Ausstellung Schloß Morsbroich Leverkusen. Berlin 2011, S. 138-142.